Ein Unternehmen so lange durch eine Zeit mit derart grossen Veränderungen zu steuern, hat an sich schon etwas Nachhaltiges. «Durch unsere starken Verbindungen können wir Entwicklungen eine bestimmte Richtung geben. Wir bleiben in der Arena», formuliert Patricia Urquiola gleich zu Beginn unseres Gesprächs entschieden den Anspruch von Cassina.
Der verbindenden Nord-Süd-Achse zwischen der Schweiz und Italien würde diese Entschlossenheit ebenfalls guttun. Wir treffen wenig überraschend mit geraumer Verspätung an der Milaneser Via Durini ein. Patricia Urquiola erwartet uns gut gelaunt in T-Shirt und Blazer: «Heute haben wir doch immer ein wenig das Gefühl, zu spät zu sein. Wir müssen eine andere Beziehung zur Zeit aufbauen.»
Seit die gebürtige Spanierin 2015 ihr Amt bei Cassina angetreten hat, stehen die Zeichen auf Umbruch. «Ein ruhmreiches Erbe sollte nie zu schwerem Gepäck werden. Eine langfristig erfolgreiche Veränderung muss noch immer von innen heraus passieren können. Es ist ein Kreislauf, in dem alles verbunden sein muss. Als wir kürzlich intern eröffnet haben, dass wir unser Hauptquartier als Zentrum unseres ‹Erbes› zum kreativsten aller unserer Büros weiterentwickeln werden, dachten die Leute zuerst an einen Spass. Aber es ist wahr: Wir machen unser Erbe zu einem lebendigen Teil der Zukunft. Und das gelingt nur mit einer Brücke zwischen der respektvollen Haltung gegenüber der Vergangenheit und einer zukunftsgerichteten Arbeitsweise mit neuen Verbindungen, Beziehungen und Ideen.»
Allgemein glaubt Patricia Urquiola vor allem an die Wirkung des Handelns statt nur an die Dringlichkeit des Dialogs über Nachhaltigkeit im Schlagzeilenformat: «Wir sprechen heute zwar weltweit viel von Ressourcenschonung, nachhaltigen Materialien oder Emissionen, doch es ist zu einfach, unsere Vorgeneration für die Plastiktüte zu verurteilen, in der sie uns Essen gebracht haben. Wir erreichen diese Ziele nur durch einen Fokus auf gute lokale Arbeit von innen nach aussen. Nachhaltigkeit beruht doch auf der Haltung, dass das, was uns umgibt, einen Wert hat, auf der Haltung der Menschen gegenüber Dingen, die uns im Alltag begleiten. Es braucht nicht schon wieder andere Dinge, sondern eine andere Haltung. Wir brauchen einen Wandel vom Verbrauch zum Gebrauch. Das Gleiche gilt für die Wertschätzung und Beständigkeit der Beziehungen mit den Menschen, mit denen wir leben und zusammenarbeiten.»
Ideen zur Veränderung im Alltäglichen können in Meda demnach von allen Seiten in den gemeinsamen Prozess einfliessen. Als ein entsprechendes Resultat wurde die Ausstellungsarchitektur für den vergangenen Salone del Mobile.Milano beispielsweise so konzipiert, dass sie im Nachgang nahtlos in den in jeder Hinsicht beeindruckenden Showroom in Mailand überführt werden konnte – einen Präsentationsort, den Cassina seit den 1950er-Jahren pflegt. «Es sind kleine Dinge, aber man muss die Leute bei der Hand nehmen und dafür sorgen, dass diese Wertekultur im Alltag aller ankommt», erklärt die Art-Direktorin überzeugt.
Das Telefon klingelt, und die Tochter von Patricia Urquiola ist dran. «Ignorieren Sie nie einen Anruf einer Tochter», mahnt sie schmunzelnd, «das ist die Beziehung zur kommenden Generation.»
Der Anruf bringt sie zum Stichwort Transparenz: «Wenn wir wachsen wollen auf diesem Weg, dann muss uns interessieren, was die Menschen um uns herum brauchen. Dazu benötigen wir wie in jeder Beziehung Transparenz.» Explizit meint sie damit auch die Beziehung von Kunden mit Händlern und Projektpartnern wie beispielsweise teo jakob: «Etablierte Marken und Instanzen können mit Transparenz viel bewegen, sie öffnen damit die Tür zu Kollaborationen und Veränderungen. Denn wenn wir weniger auf unseren altgedienten Erfolgen und Standpunkten beharren, dann wird es möglich, auch grosse Schiffe zu wenden und den Dingen eine andere Richtung zu geben. Gemeinsam können wir viel beeinflussen.»
Eine Mitarbeiterin aus Patricia Urquiolas Team weist uns darauf hin, dass aufgrund eines Folgetermins noch drei Minuten für die Porträts verbleiben würden. Wir einigen uns auf fünf. Es werden zehn, gefolgt von einem längeren Gespräch beim Eingang, bis die Gruppe um die Designerin die Via Durini wieder verlässt. Mit geraumer Verspätung, wohlgemerkt. Bessere Beziehungen brauchen wohl etwas Zeit.
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